Foto: Yves Schüpbach

Benita Combet ist Soziologin und Expertin, wenn es um die anhaltende Lohungleichheit zwischen den Geschlechtern in der Schweiz geht. Im Interview erklärt sie, welche Faktoren für die Lohnunterschiede verantwortlich sind, welche Verbesserungen es in den letzten Jahren gab und warum es beim Lohn gar nicht so sehr aufs Verhandeln ankommt, wie man meinen mag.

Bei der Recherche zur Lohnungleichheit in der Schweiz, auch «Gender Pay-Gap» genannt, stösst man zunächst auf recht unterschiedliche Zahlen: Einmal sind von 19% die Rede, dann wiederum von 8,1% (Stand 2018, EBG). Diese grossen Unterschiede lassen sich zunächst mit dem «unbereinigten» und «bereinigten» Pay-Gap erklären. Beim bereinigten Lohnunterschied von 8.1% werden Aspekte wie unterschiedlicher Bildungsstand, Berufserfahrung, der Arbeitsumfang, die Berufswahl selbst oder auch der geringere Anteil von Frauen* in Führungspositionen herausgerechnet. Dieser Lohnunterschied tritt durchschnittlich schon nach einem Jahr im Berufsleben ein und auch dann, wenn Frau und Mann in allen bestimmenden Faktoren übereinstimmen – 8,1% um die Frauen demnach finanziell diskriminiert werden, könnte man meinen. Aber auch der Lohnunterschied von knapp 20% sollte unter sexistischen Gesichtspunkten näher beleuchtet werden, denn dass Frauen vor allem im sozialen Bereich tätig sind oder vermehrt in Teilzeit arbeiten als Männer, hat mit stereotypen Rollenzuschreibungen zu tun. Über die Lohnungleichheit zu sprechen ist wichtig, denn der geringere Lohn und die finanzielle Abhängigkeit von Frauen führt dazu, dass diese im Alter vermehrt mit Armut zu kämpfen haben und bedeutet für alle Geschlechter das Aufrechterhalten überholt geglaubter Rollenklischees. 

Im Interview wollen wir den Gründen für die bestehende Lohnungleichheit auf den Grund gehen und mögliche Strategien ausmachen, wie diese überwunden werden können.

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Out & About: Der unbereinigte Pay-Gap lässt sich vor allem mit den Positionen (kaum Kaderpositionen), schlechter bezahlten Berufsfeldern (z.B. Pflege anstelle von Maschinenbau) und der Teilzeitarbeit erklären, in denen Frauen überwiegend arbeiten. Beginnen wir doch bei der Berufswahl: Wie kommt es Ihrer Meinung nach dazu, dass Frauen überwiegend im sozialen Bereich tätig sind, obwohl ihnen grundsätzlich alle Berufsfelder offenstehen?

Benita Combet: Bei der Berufswahl werden die verschiedenen Bereiche und Fächer oft aufgrund von Stereotypen gewählt. Gesellschaftlich besteht etwa immer noch die Ansicht, dass Frauen und Männer unterschiedliche Fähigkeiten besitzen. Beispielsweise hält sich hartnäckig das Vorurteil, dass Frauen emotionale Arbeit von Natur aus leichter fällt, während Männer ihre Begabung im logischen Denken und in technisch und handwerklichen Bereichen besitzen. Aber Studien zeigen, dass diese Zuschreibungen nicht stimmen. In Mathematik gibt es beispielsweise keine Unterschiede in den Leistungen und in manchen mathematischen Bereichen sind Frauen sogar besser. Aufgrund der permanenten Konfrontation mit diesen Stereotypen durch die Eltern, Freund*innen wie auch Medien werden diese Stereotypen internalisiert und führen zu einer stereotypen Zuschreibung von Fähigkeiten. Beispielsweise werden bei Mädchen schlechte Mathenoten nicht mit mangelhafter Prüfungsvorbereitung, sondern durch fehlende Begabung erklärt. Als Konsequenz bereiten sie sich in Zukunft noch weniger auf Mathematikprüfungen vor, weil sie meinen, dass sie die nötige Begabung ja sowieso nicht besitzen – ein Teufelskreis. Nicht überraschend führt dieser Prozess dazu, dass spezifische fachliche Interessen entwickelt werden. Und nach dem Abschluss spiegeln sich diese Interessen dann auch in der Berufs- und Studienwahl wieder: Männer orientieren sich eher in Richtung Naturwissenschaft und Technik, während Frauen in Richtung Soziales und Sprache tendieren.

«Diese stereotypen Ansichten von dem, was das jeweilige Geschlecht gut kann, beeinflussen etwa schon die Erziehung der Eltern.»

Wie bewusst werden solche Prägungen und Stereotype wahrgenommen?

Die Prägungen sind sowohl bewusst als auch unbewusst und werden durch permanente Rückmeldung durch die Umwelt verstärkt. Diese stereotypen Ansichten von dem, was das jeweilige Geschlecht gut kann, beeinflussen etwa schon die Erziehung der Eltern. Eltern schätzen beispielsweise die Fähigkeiten beim Krabbeln ihrer Kinder unterschiedlich ein, Jungs werden oft über- und Mädchen unterschätzt. Auch in der Schule erhalten Mädchen und Jungen unterschiedliche Rückmeldung zu ihren Leistungen, was die stereotypen Vorstellungen weiter verstärkt. Aber auch wenn diese zunächst eher unbewusst wirken, kann man sich den Stereotypen bewusstwerden und sich dazu entschliessen, ihnen nicht zu entsprechen.

Lässt sich die einseitige Berufswahl neben Stereotypen auch historisch begründen? Wie kommt es dazu, dass manche Berufe typisch weiblich und andere männlich geprägt wurden?

Frauen waren schon immer in Berufen und Bereichen tätig, die nicht dem klassischen Stereotyp entsprechen. Ein spannendes Beispiel ist die Informatik: Das Berufsfeld war anfangs stark von Frauen dominiert, da die Informatik vor allem während des 2. Weltkrieges mit ihren Verschlüsselungsmethoden bedeutend wurde. Zu dieser Zeit waren die meisten Männer im Krieg und so wurde der Beruf vor allem von Frauen ausgeführt. Die Informatik wurde dann auch stark weiblich konnotiert, so hiess es etwa, dass die stark repetitive Arbeit sehr gut zu Frauen passt. Später, nachdem es viel Zulauf von Männern gab, wurden für den Beruf notwendigen Fähigkeiten neu definiert: Die Überzeugung entstand, dass männlich konnotierte Fähigkeiten wie Logik notwendig sind.

Wenn nun eine Frau oder auch ein Mann sich für einen Beruf entscheidet, der nicht dem klassischen Stereotyp entspricht, ist dann schon ein grosser Schritt geschafft oder gibt es noch weitere Faktoren, die sich negativ auswirken und die Stereotype am Leben halten?

Frauen entscheiden sich ja nicht nur für bestimmte Berufe, sondern es stellt sich auch die Frage, in welche Positionen sie innerhalb der Firma eintreten und ob sie befördert werden. Auch bei diesen Fragen spielen Genderrollen eine wichtige Rolle. Die Verantwortlichen in Firmen haben oft eine Tendenz, sei es bewusst oder unbewusst, weniger Frauen einzustellen und zu befördern. Denn sie befürchten gerade bei jüngeren Frauen, dass diese früher oder später schwanger werden und dann für eine bestimmte Zeit ausfallen. Da gerade die Kinderbetreuung und Erziehungsarbeit noch meistens an der Frau hängen bleibt, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass sie später in Teilzeit weiterarbeitet, was die Personaler*innen beim Einstellen beeinflusst.

Würde sich die Situation zum Positiven zu verändern, wenn mehr Männer hauptverantwortlich die Erziehungsarbeit übernehmen würden, da Arbeitgeber*innen dann nicht mehr automatisch davon ausgehen, dass die Frau eines Tages ausfallen wird?

Hypothetisch: Ja. Wenn mehr Männer die Elternzeit übernehmen, dann wäre die Annahme, dass sozusagen jede Frau früher oder später in den Schwangerschaftsurlaub und in Elternzeit geht, nicht mehr naheliegend. Allerdings könnten sich Personalentscheidungen dann gegen junge Personen an sich, also potenzielle Eltern, richten. Studien zeigen aber, dass nicht nur das Effizienzargument beim Einstellen zum Tragen kommt, sondern auch Sympathieaspekte. Der gesellschaftlichen Erwartung entsprechend sollen Frauen für ihre Kinder da sein und wer dem nicht nachkommt, wirkt unsympathisch, was wiederum dazu führt, dass Vollzeit erwerbstätige Mütter mit jungen Kindern weniger häufig eingestellt werden. Da gibt es aber auch kulturelle Unterschiede. In einigen Nachbarländern wie beispielsweise Frankreich ist es etwa üblicher, Kinder früh in die Krippe zu geben und dadurch auch gesellschaftlich akzeptierter.

Wenn man sich die Zahlen des bereinigten Pay-Gaps genauer ansieht, stösst man auch hier auf unterschiedliche Zahlen: Einmal auf die oben erwähnten 8,1% und dann aber auch auf 4,8%, aus einer Studie von Ihnen aus dem Jahr 2019. Sie erklärten in einem Interview, das dies auch mit den untersuchten Unternehmen der jeweiligen Studie zusammenhängt. Was machen die einen Unternehmen besser als die anderen?

Bei staatlichen Institutionen gibt es weniger Lohnungleichheit, da diese nicht viel Spielraum besitzen und klare Vorgaben haben, wenn es um die Bezahlung von Stellen geht. Anders ist es bei privaten Firmen, insbesondere kleinen, ohne geschultes Human Ressource Management, da dann die nötige Sensibilisierung für die Thematik fehlt und Lohnhöhe, Promotionen sowie Jobvergaben eher aufgrund von persönlicher Sympathie erfolgen. Ist das Bewusstsein vorhanden, dass alle Menschen sich durch unbewusste Biases verführen lassen, kann man konkret dagegen vorgehen. Zum Beispiel weiss man, dass bei Einstellungsverfahren das Abdecken des Namens und das Weglassen eines Fotos hilft, Biases aufgrund des Geschlechts oder der ethnischen Zugehörigkeit zu reduzieren.

Könnte eine Frau mit Verhandlungsgeschick gegen solche sexistisch geprägten Entscheidungen ankommen?

Studien zeigen, dass das konkrete Auftreten der Frau kaum einen Einfluss hat. Beispielsweise existiert das Vorurteil, dass Frauen nicht so gut im Verhandeln sind wie Männer und deswegen einen niedrigeren Lohn kriegen. Viele Studien haben gezeigt, dass dem nicht so ist, respektive, dass Frauen, wenn sie für andere verhandeln, in Laborstudien sogar besser sind als Männer. Wenn Frauen ebenso aggressiv um ihren Lohn feilschen wie Männer, ist das Problem vielmehr, dass sie gegen das Rollenbild der einfühlsamen und netten Frau verstossen und in der Folge unsympathisch wirken. Das Gleiche gilt übrigens auch in Bezug auf Führungspositionen, da die Erwartung existiert, dass Führungspersonen dominant und durchsetzungsfähig sein müssen, was mit der Idee der empathischen und netten Frau in Konflikt steht.

«Stereotype sind uns so lange nicht bewusst, bis wir den Willen haben, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen.»

Gibt es denn wenigstens in den letzten Jahren Erfolge zu verzeichnen? Hat sich der Lohnunterschied verringert und auf welche Faktoren ist das zurückzuführen?

Absolut. Beispielsweise haben Frauen heutzutage häufig sogar höhere Bildungsabschlüsse als Männer, was den Lohnunterschied deutlich gesenkt hat. Es gibt auch viele Berufe, die heute in Frauen- und nicht mehr in Männerhand sind. Zum Beispiel studieren in den Fächern Medizin, Jura oder auch Biologie mehr Frauen als Männer. Und das wirkt sich natürlich positiv auf den späteren Lohn aus.

Was würden Sie auf politischer Ebene empfehlen, um die oben beschriebenen Strukturen zu überwinden?

Politisch wäre es wichtig, den Elternurlaub für beide Geschlechter und das Betreuungsangebot auszubauen. Das wird gerade auch von politischer Seite versucht umzusetzen, was zu begrüssen ist. Es müssten mehr und günstigere Krippenplätze zur Verfügung gestellt werden, da das Mütter ermöglichen könnte, früher an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Ein anderer Punkt, der sehr wichtig ist und der auch in der Politik diskutiert wird, ist die Abschaffung der Heiratsstrafe. Das Ehegattensplitting, das aktuell gilt, demotiviert Frauen zu arbeiten, da ihnen von einer Arbeit am Ende kaum Erlös bleibt. Eine Umsetzung all dieser Faktoren würde sehr wahrscheinlich einen positiven Effekt haben.

Wäre es auch vorstellbar, dass in Zukunft typisch weiblich konnotierte Attribute als passender und erwünscht für Führungspositionen angesehen werden?

Das wäre zu wünschen und wird wohl auch passieren, aber es könnte noch eine Weile dauern. Wir werden in diese Normen und Stereotype hineinsozialisiert und sie zu verändern ist ein sehr langwieriger Prozess, da sie vielfältig, etwa durch Bücher, Filme und Medien vermittelt werden, während uns gleichzeitig in der realen Welt weibliche Vorbilder fehlen.

Zu guter Letzt: Was wäre Ihrer Meinung nach ein wichtiger Schritt, um die unbewussten Prägungen auf individueller Ebene zu überkommen?

Stereotype sind uns so lange nicht bewusst, bis wir den Willen haben, unsere Wahrnehmung zu hinterfragen. Dies kann im Kleinen dadurch geschehen, dass man die eigenen Vorstellungen und Assoziationen kritisch reflektiert. Konkret: Kann es sein, dass ich bei schulisch erfolgreichen Mädchen davon ausgehe, dass sie viel auf Prüfungen lernen, während ich bei den Jungen annehme, dass sie einfach intrinsisch begabt sind? Vermute ich bei einer erfolgreichen Frau automatisch, dass sie nicht durch eigene Leistung in diese Position gekommen ist?

Interview von Catherin Schöberl

*Personen, die weiblich (respektive männlich) sozialisiert wurden