Out & About: Herr Luginbühl, meint das generische Maskulinum tatsächlich alle mit?
Martin Luginbühl: Es kann durchaus sein, dass die sprechende oder schreibende Person alle Geschlechtsidentitäten vor Augen hat. Aber der springende Punkt ist, was sich die Personen vorstellen, die die Aussagen dann hören oder lesen. Es reicht also nicht alle mitzumeinen, wenn diejenigen, die es hören, nur an Männer denken.
Und dann gibt es natürlich viele Bereiche, in denen es einfach unklar bleibt, wer genau gemeint ist. Ein konkretes Beispiel: „Alle Rentner bekommen ihre AHV mit 65“. Wenn man sich nicht mit dem Rentensystem der Schweiz auskennt, bleibt bei dieser Aussage offen, ob hier nur von Männern oder auch von Frauen die Rede ist. Salopp gesagt ist es ein «linguistischer Unglücksfall», dass die Form des generischen Maskulinums gleichlautend ist mit der maskulinen Form.
«Sprache und Realität sind interdependent.»
Würde eine gendergerechte Sprache, etwa Doppelformen (Student und Studentin) oder die Verwendung des Gendersternchens (Student*innen) die Sichtbarkeit aller Geschlechtsidentitäten erhöhen?
Faktisch zeigen alle Studien, die es in dem Bereich gibt, sehr deutlich, dass beim generischen Maskulinum überwiegend oder primär an Männer gedacht wird. Im Umkehrschluss: Ja, gendergerechte Sprache hat einen Einfluss darauf, an wen wir denken.
Befürworter*innen der gendergerechten Sprache plädieren dafür, dass ein veränderter Sprachgebrauch auch die Realität und unseren Blick auf die Welt verändern kann. Inwieweit sprechen sie der Sprache diese Macht zu?
Sprache und Realität sind interdependent. Ich bringe Wirklichkeit hervor, indem ich sie versprachliche. Und gleichzeitig bildet Sprache auch die Wirklichkeit ab. Es ist deshalb sehr schwierig zu sagen, wie genau sich das zueinander verhält. Ich glaube, dass sobald sich Wirklichkeiten verändern, wir selbst merken, dass die Sprache, die wir haben, nicht mehr zu unserer Wirklichkeit und dem, was wir abbilden wollen, passt.
Wenn wir früher etwa ausschliesslich von Studenten geredet haben, dann war klar, dass damit alle Personen gemeint sind, die an der Universität studieren. Sobald sich aber zum Studenten die Studentin gesellte, hat sich der Wert des Wortes verändert und es kam zu einer Verschiebung der Bedeutung. Auch die Wahrnehmung des Wortes hat sich verändert. Und wenn ich heute von Studenten spreche, schwingt darin mit, dass ich explizit nicht von Studentinnen spreche, diese also ausschliesse. Neue sprachliche Formen reagieren auf diese Veränderungen.
Warum spiegeln sich die Veränderungen in der Gesellschaft eigentlich nicht automatisch in der Sprache wider? Braucht sprachlicher Wandel grundsätzlich länger als konkrete reelle Veränderungen?
Die Auffassung, dass sich Sprache irgendwann anpasst und sozusagen von selbst verändert, ist problematisch. Denn Sprache ändert sich nie von selbst, sondern nur im Gebrauch von Menschen. Grundsätzlich muss man sagen, dass Sprache nichts Künstliches, aber auch nichts rein Natürliches ist. Es gibt diese Vorstellungen der Sprachpflege, dass man die Sprache erhalten soll und wir nichts an der Sprache verändern dürfen. Aber Sprache ist ein kulturelles Phänomen, das von Menschen hervorgebracht wird. Jede*r verwendet Sprache. Und gleichzeitig, deswegen ist es ein kulturelles und kein rein individuelles Phänomen, können wir die Sprachveränderung nicht als Individuum initiieren. Da gibt es kollektive Prozesse, die wir gar nicht kontrollieren können. Vielleicht ist das Gendersternchen in 5 Jahren auch wieder weg, durch eine andere Form ersetzt oder – auch wenn ich es nicht glaube – wird es eine Rückkehr zum generischen Maskulinum geben.
«Wofür ich also plädieren würde: Grosszügig den Menschen gegenüber sein, die Neues ausprobieren.»
Kritiker*innen stellen sich oft gegen bewusste Änderungen des Sprachgebrauchs, auch mit dem Argument, dass gendergerechte Sprache ideologisch sei und in der Folge nicht mehr die Realität, sondern einen Wunschzustand abbilden würde.
Absolut, gendergerechte Sprache ist hochgradig ideologisch. Aber Sprache ist immer ideologisch. Auch das generische Maskulinum ist ideologisch; aus patriarchalen Strukturen heraus erwachsen. Die Frage ist also gar nicht, ob wir Ideologie wollen oder nicht, sondern welche Ideologie wir wollen. Was bedeutet es genau, die Realität abzubilden? Wenn ich mich nach der Mehrheit richte, müssten wir an unserer Fakultät das generische Femininum verwenden, denn hier studieren viel mehr Frauen als Männer.
Meine Haltung wäre vielmehr die, dass ich Diversität abbilden möchte. Und gerade Menschen, die statistisch gesehen zu einer Minderheit gehören, erzählen oft, wie extrem wichtig diese Form der Wertschätzung für sie ist. Das meine ich gar nicht paternalistisch, sondern spreche da aus eigener Erfahrung: Wir fühlen uns dort wohl, können uns entfalten und produktiv werden, wo wir uns wertgeschätzt fühlen. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, das auch in der Sprache zu tun. Und wenn ich Diversität in meinem Sprachgebrauch abbilden möchte, mache ich das lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig.
Was wäre Ihr Kompromissangebot für die beiden Parteien?
Was ich wichtig finde, ist nach Möglichkeit, die Diskussion zu entemotionalisieren. Wie ich das erlebe, wird es recht schnell sehr emotional. Wenn wir Personen bestimmte sprachliche Formen vorschreiben, fühlen sich viele angegriffen – nachvollziehbarerweise. Denn es ist ein Angriff auf die sprachliche Selbstbestimmung von Menschen und das ist ein hohes Gut, das man schützen muss. Ich würde einen Sprachwandel daher niemandem vorschreiben. Meine Erfahrung ist ohnehin, dass sobald Prozesse von Sprachbewusstsein initiiert werden, ganz viele diese Änderungen von selbst übernehmen. Vielleicht nicht immer und vielleicht nicht überall, aber das ist auch nicht notwendig.
Wofür ich also plädieren würde: Grosszügig den Menschen gegenüber sein, die Neues ausprobieren. Und erklären, welche Ideen und Bestrebungen hinter den neuen Formen liegen. Dann können alle für sich entscheiden, ob sie die Idee mittragen können. Alles andere liegt sowieso nicht mehr in unserer Hand, das sind dann kollektive Prozesse, die zeigen werden, ob sich diese Formen durchsetzen oder nicht.
Wie wird eigentlich vonseiten der Universität und anderen offiziellen Stellen mit dem Anspruch an eine inklusive Sprache umgegangen?
Von der Universität Basel gibt es zwar keine Vorschriften, aber Überlegungen zu Richtlinien, was ich begrüsse. Auch als eine Reaktion auf die Bedürfnisse der Studierendenadministration.
Das entscheidende Organ, wenn es um Vorschriften für den schulischen und amtlichen Bereich geht, ist der Rat für Deutsche Rechtschreibung. Für viele Personen, die nicht gut lesen können, ist der Zugang zu neuen sprachlichen Formen schwer. Es kann gut sein, dass der Rat aufgrund dieser Argumente die Formen nicht als grammatikalisch korrekt anerkennen wird. Was wir aber in Zeitungen, Online-Medien und privat tun, ist uns allen selbst überlassen. Es ist also möglich, dass sich einige Formen in bestimmten Bereichen etablieren und in anderen nicht.
«Ich glaube, es ist ganz schwierig, beim Pronomen auf Unterscheidungen zu verzichten, da wir so gewohnt sind, diese im Deutschen zu machen.»
Neben der Sichtbarmachung von Frauen und Männern werden in den letzten Jahren vor allem Forderungen nach einer Sprache laut, die auch nicht-binäre Geschlechtsidentitäten benennt. Ein Vorschlag, der immer wieder auftaucht, ist das Einführen sogenannter «Neopronomen» (z. B. «they», «hen» oder «xier»). Glauben Sie, dass die Einführung solcher neuen Begriffe funktionieren kann?
Ich sehe in dem Verwenden dieser Pronomen einen spannenden Diskussionsbeitrag. Auch schon in der feministischen Linguistik der 1980er Jahre gab es Vorschläge, die zwar durchaus ernst gemeint waren, aber von denen man nicht unbedingt erwartet hat, dass sie sich einmal durchsetzen werden. Ich glaube, Neopronomen können gerade durch ihre Irritation sehr produktiv sein, aber sie sind auch ein sehr grosser Eingriff ins Sprachsystem und deshalb glaube ich, dass sie gesellschaftlich nur auf eine geringe Akzeptanz stossen werden. Meine Prognose ist, dass sich das nicht durchsetzt. Ich glaube, es ist ganz schwierig, beim Pronomen auf Unterscheidungen zu verzichten, da wir so gewohnt sind, diese im Deutschen zu machen. Aber das ist eine gewagte Prognose, vielleicht sieht es in 10 Jahren auch anders aus. Da spielen Gewöhnungseffekte eine wichtige Rolle.
Wie stehen Sie zu den vielfältigen Formen der gendergerechten Sprache und den immer neuen Vorschlägen?
Aktuell wird viel ausprobiert und es gibt viele Formen nebeneinander. Aber wenn man genau hinschaut, ist Sprache immer so. Man schreibt SMS etwa auf Dialekt und in anderen Bereichen weiss man, man muss Standard schreiben.
Sprache ist im Gebrauch also immer sehr heterogen. Das Spannende ist eigentlich mehr, dass sich da so eine intensive Diskussion entzündet. Und das hat natürlich damit zu tun, dass Geschlecht einerseits eine der zentralen Kategorien ist, nach der wir Menschen wahrnehmen und sortieren; eine hochgradig ideologisch aufgeladene Kategorie. Und andererseits ein soziales Merkmal, das wir in ganz vielen Kontexten festlegen müssen, wenn wir Deutsch sprechen. Da machen es andere Sprachen den Sprecher*innen etwas einfacher. Beispielsweise kann «The teacher» beides sein, sowohl weiblich oder männlich. Und im Deutschen haben wir eben den «linguistischen Unglücksfall» mit dem generischen Maskulinum.
Macht es Sinn, auf andere Sprachen, zum Beispiel das Englische, zurückzugreifen und neue Worte zu etablieren?
Ja, das kann durchaus eine Möglichkeit sein. Allgemein ist für mich weniger die Frage wichtig, ob diese Übernahmen sinnvoll sind oder nicht, sondern was davon tatsächlich übernommen wird und sich kollektiv durchsetzt. Beispielsweise wird aktuell häufig das Wort «queer» genutzt.
Was halten Sie von empowernden Strategien, bei denen Rapper*innen etwa negativ konnotierte Bezeichnungen wie «Bitch» als Selbstbezeichnungen wählen?
Ein spannendes Phänomen! Ich stelle es auch in eine Reihe mit der Verwendung des N-Worts, das von Schwarzen Rapper*innen zum Teil in deren Texten wieder aufgegriffen und verwendet wird. Und das ist auch ein politischer Kampf für die Rückeroberung von Sprache, die einem enteignet wurde und abgewertet worden ist.
Ich finde es vor allem auch spannend, weil es eine bestimmte Zeit lang natürlich irritieren kann und deshalb wieder im Sprachbewusstseinsprozess produktiv werden kann.
Wie gehen Sie eigentlich mit der Popularität des Themas um – das Gendern war in den letzten Jahren immer wieder Inhalt von Talkshows und wurde heiss diskutiert.
Zum einen finde ich es sehr spannend, dass es diesen breiten Diskurs über das Thema gibt. Aber natürlich ärgert es mich, wenn leider recht häufig linguistisch falsche Tatsachen behauptet werden. Natürlich gibt es auch innerhalb der Linguistik eine Debatte, aber bestimmte Dinge stehen fest. Zum Beispiel die Tatsache, dass Sprache immer ideologisch ist.
Zum Abschluss würde uns noch interessieren: Hat Ihr Wissen über die Sprache auch Ihr eigenes Sprechen verändert?
Es bleibt spannend, weil mir immer wieder Dinge auffallen, aber es zugleich auch viele Dinge gibt, an die ich mich mehr oder weniger gewöhnt habe. Was ich noch nicht allzu lange mache, ist auch im Mündlichen konsequent zu gendern. Ich habe lange Doppelformen benutzt, bemühe mich jetzt aber auf geschlechtsneutrale Bezeichnungen zurückzugreifen oder mit dem Glottisschlag zu arbeiten.